Oradour und die Deutschen: Ein Vortrag von Dr. Andrea Erkenbrecher
„Vielleicht sollte nicht Versöhnung das Ziel sein, sondern eine vertrauensvolle Kooperation“, sagt Andrea Erkenbrecher. Der Satz, den die Historikerin am Ende der packenden Vorstellung ihres Buches „Oradour und die Deutschen“ im Stadthaus auch ein wenig als Frage formuliert, könnte sich als wertvoll erweisen: Als eine Art Rezept für den Ausbau der freundschaftlichen Beziehungen zu den Bewohnern jenes Ortes, der wie kein zweiter in Westeuropa für die Gräuel eines entfesselnden Krieges steht – und dessen Bürgermeister Philippe Lacroix Hersbruck die Hand gereicht hat.
Schon länger beobachte sie gespannt, wie sich Hersbruck und Oradour annähern, so Erkenbrecher, „nicht nur als Historikerin, sondern auch als Fränkin“. Bei ihren rund 100 Zuhörern geht sie von einigem Vorwissen aus und weicht deshalb bewusst vom Manuskript für andere Stationen ihrer Lesereise ab, auf der sie ihre umfangreiche Studie zum deutschen Umgang mit dem Massaker vorstellt. Sie möchte an diesem Abend mit wenig bekannten Details ein „gutes Fundament für das künftige Agieren und richtige Einordnen der Geschehnisse“ legen.
Nur damit lasse sich verstehen, warum (und wie) die Nachfahren der mindestens 643 am 10. Juni 1944 von einer SS-Einheit brutal ermordeten Männer, Frauen und Kinder und der wenigen an diesem apokalyptischen Tag Davongekommenen auf bestimmte Äußerungen oder Gesten reagieren. Eine hierzulande gerne vernachlässigte Frage steht dabei im Mittelpunkt: Was haben die Bewohner von Oradour nach dem Massaker erwartet – von deutscher Seite als auch ihren eigenen Landsleuten?
Zuerst das nächst liegende Bedürfnis nach einer derart grausamen Bluttat: Gerechtigkeit, eine verdiente Strafe für die Täter. Von denen war bei Kriegsende noch gut die Hälfte am Leben, vor einem bundesdeutschen Gericht aber musste sich keiner verantworten – obwohl es bis weit in die 90er Jahre hinein (und dann noch einmal ab 2011) zahlreiche Ermittlungsverfahren gab, wie Andrea Erkenbrecher herausfand.
Warum das? Dafür nannte die in Feuchtwangen geborene Historikerin ein ganzes Bündel an „Gründen“ – vom schieren Unwillen über eine Politik, die dies eher verhindern als fördern wollte, bis zu fehlenden schriftlichen Beweisen. Der für das brutale Blutvergießen verantwortliche SS-Kommandant Heinrich Lammerding lebte deshalb weitgehend unbehelligt als erfolgreicher Bauunternehmer, der sogar Aufträge der Staatsregierung erhielt, in seiner Düsseldorfer Villa und traf sich regelmäßig mit früheren SS-Kameraden.
Nur in der DDR wurde 1983 mit Heinz Barth ein Täter zu 14 Jahren Haft verurteilt – doch dieser Prozess war zuallererst politisch motiviert, so Erkenbrecher. Der ehemalige Zugführer kam 1997 im wiedervereinten Deutschland frei und erhielt zeitweise sogar eine Kriegsopferrente. Ein später Schlag ins Gesicht der Opfer.
Nicht minder schlimm empfand der 1945 gegründete Hinterbliebenenverband „Association Nationale des Familles des Martyrs d’Oradour-sur-Glane“ (ANFM), dass die Bundesrepublik nichts unternahm gegen die teils bis heute wirksame, bewusste Umdeutung der wahren Vorkommnisse. Das begann schon vor dem Massaker, sagt Erkenbrecher – als die Offiziere der Waffen-SS Oradour als Rückzugsort des Widerstands bezeichneten, obwohl sie genau wussten, dass das nicht stimmt. Am Abend, als über 640 unschuldige Menschen tot sind und 328 Häuser in Schutt und Asche liegen, hieß es dann zynisch: „Wir sind angegriffen worden, haben uns gewehrt und dabei geriet irgendwie der ganze Ort in Brand.“
Ziel sei stets gewesen, die Vorkommnisse zu relativieren und so die Täter zu entlasten, sagt Erkenbrecher: „Das Massaker ist schwer zu leugnen, wohl aber die Verantwortung der SS.“ Die von Anfang an nachweisbaren Versuche, die Schuld auf die Opfer abzuwälzen, dominierten in Westdeutschland jahrzehntelang – bis 2004 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder öffentlich anerkannte, dass die Bürger Oradours bei dem Massaker einer „entfesselten, unmenschlichen Waffen-SS zum Opfer fielen“.
Während die Angehörigen der Opfer jahrzehntelang vergeblich auf diese offizielle Anerkennung des Verbrechens warteten, kam aus Deutschland schon kurz nach Kriegsende etwas, auf das sie lange Zeit keinerlei Wert legten: Gesten der Versöhnung. „Der Ort wollte Gerechtigkeit, keine Deutschen, die Blumen am Grab ablegen“, sagte Andrea Erkenbrecher. Dieser Satz galt zumindest für den ANFM und die offizielle Haltung der Gemeinde.
Auf privater Ebene habe es dagegen sehr wohl gelungene Versöhnungsversuche und eine Annäherung gegeben, weiß Erkenbrecher – entgegen der weit verbreiteten Darstellung, der Ort habe lange Jahre jeden Kontakt zu Deutschen verweigert. Schon in den 1950er Jahre übergab beispielsweise die katholische Organisation „Pax Christi“ einen Versöhnungskelch aus eingeschmolzenem Schmuck. 1953 sammelten Schüler aus Castrop-Rauxel Geld für einen Baum, der in der neuen Schule von Oradour gepflanzt werden sollte.
Ein bemerkenswertes Kapitel der Annäherung schrieben der örtliche Pfarrer Henri Boudet und der für den Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge tätige Vinzenz Kremp. Der kam 1976 mit einer Jugendgruppe nach Oradour, um während einer Messe einen Kandelaber zu übergeben. Anschließend machte sie Boudet mit Gemeindemitgliedern, Vertretern des ANFM und der politischen Gemeinde bekannt. In den folgenden zehn Jahren vertiefte sich der Kontakt, mehrfach reisten Jugendliche aus Oradour nach Deutschland – darunter der heutige Bürgermeister Philippe Lacroix. Auch die Freundschaft zwischen Robert Hébras, einem der Überlebenden des Massakers, und dem früheren Bezirkstagsvizepräsidenten Fritz Körber gehört zu dieser privaten Ebene.
1995 schließlich machte der frisch gewählte Bürgermeister Raymond Frugier die bis dahin eher zögerliche Annäherung quasi offiziell. Er brach mit dem ungeschriebenen Gesetz, dass Deutsche im Ort nicht willkommen sind, und empfing auch höherrangige Politiker aus dem Nachbarland. Entscheidend dabei, so Erkenbrecher: diese Besuche gingen nun endlich auch „ins kollektive Gedächtnis ein“. Das war vorher nicht so – noch 1994 blieb im lokalen Mitteilungsblatt (wie in Gesprächen mit Bewohnern) unerwähnt, dass die SPD-Bundestagsabgeordnete Heidemarie Wieczorek-Zeul zum 50. Jahrestag des Massakers in Oradour einen Kranz niedergelegt hatte. Der lag auch am nächsten Tag noch da, die Schleife aus Deutschland aber war verschwunden.
Und was bedeutet all das für die Zukunft der Beziehungen zwischen Hersbruck und Oradour? Zu allererst, dass sie auf einer komplizierten und komplexen Vorgeschichte aufbauen – auf Enttäuschungen und Verletzungen, Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Aber, und da machte Andrea Erkenbrecher ihren Zuhörern, darunter Bürgermeister Robert Ilg, Landrat Armin Kroder und viele Stadträte, durchaus Mut für die nächsten behutsamen Schritte: „Wir können die Vergangenheit Stück für Stück zusammensetzen und dieses Wissen für die Zukunft nutzen.“