Beeindruckende Begegnungen mit französischen Freunden
Schwarz-rot-goldene Luftballons, Girlanden in den Farben der Bundesrepublik: Schon ein Blick auf die Dekoration im gemeindeeigenen Salle des Carderies zeigte den Teilnehmern der Bürgerreise nach Oradour, dass ihre französischen Gastgeber sie mit offenen Armen empfangen – die deutschen Farben sind eine große, lange undenkbare Geste für den Ort, in dem eine SS-Einheit vor 80 Jahren das schlimmste Massaker an der Westfront verübt und 643 Männer, Frauen und Kinder brutal ermordet hatte.
Das abscheuliche, an Menschenverachtung kaum zu überbietende Kriegsverbrechen der SS-Panzerdivision „Das Reich“ am 10. Juni 1944 steht auch an diesem sonnigen Herbstmontag im Mittelpunkt des Besuchs der von Bürgermeister Robert Ilg begleiteten Gruppe. Im Foyer des 1999 eröffneten Centre de la mémoire stehen die 37 Gäste aus Hersbruck und Umgebung gleich vor zwei symbolträchtigen Fotos: auf der einen Seite Adolf Hitler bei einer Rede an begeisterte Volksmassen auf einem Reichsparteitag in Nürnberg und auf der anderen – als krasser Gegensatz – der Schriftzug „Souviens-toi“ (Erinnere dich).
Die Ausstellung nimmt das Konzept der Gegensätze auf und macht so das Grauen dieses Tages spürbar: Hier, in hellen Farben gehalten, die Beschreibung des täglichen Lebens in dem ein wenig verträumt inmitten der malerischen Landschaft liegenden Dorf. Dort – in aggressivem Rot und Schwarz – der Aufstieg der Nationalsozialisten und die Geschichte der SS-Panzerdivision „Das Reich“, die schon in Russland und der Ukraine eine blutige Spur in der Zivilbevölkerung hinterlassen hatte. Am 10. Juni 1944 prallten diese gegensätzlichen Welten in Oradour-sur-Glane so unvermittelt wie brutal aufeinander.
Wie arglos die 190 Männer, 246 Frauen und 207 Kinder am frühen Nachmittags dieses Markt-Samstags waren, als die rund 150 Soldaten in ihr Dorf kamen, schilderte Agathe Hébras beim Rundgang durch die Ruinen des von den SS-Schergen nach ihrem Blutrausch niedergebrannten Dorfes. Nur ganz wenige seien rechtzeitig geflohen, bevor das Dorf abgeriegelt wurde, sagt die Enkelin des im Vorjahr verstorbenen letzten Augenzeugen Robert Hébras.
Nur um Haaresbreite überlebt
Mit den Hersbruckern geht sie den Weg, den ihr Großvater vor 80 Jahren nehmen musste: Von seinem Wohnhaus zum Marktplatz, wo die SS die Bewohner zusammentrieb und die Männern von den Frauen und Kindern trennte, und weiter zur Scheune Laudy. Dort entging Hébras den tödlichen Kugeln aus zwei Maschinengewehren und dem anschließend von den Soldaten gelegten Feuer nur um Haaresbreite. Neben ihm überlebten lediglich vier weitere Männer das Inferno, wie auch Marguerite Rouffanche, der als einziger Frau die Flucht aus der Flammenhölle in der Kirche gelang.
Für immer unvergessen, ist dieser apokalyptische Tag doch nur ein Teil der Geschichte des Ortes. Inzwischen schauen die 2500 Einwohner lieber nach vorne. Im Juni unterzeichneten Bürgermeister Philippe Lacroix und sein Hersbrucker Amtskollege Robert Ilg anlässlich des 80. Jahrestages des Massakers einen Freundschaftsvertrag – am Eingang der örtlichen Schule hielt ein Street-Art-Künstler dieses „sehr wichtige Ereignis“ (Lacroix) in einem beeindruckendem Fresko fest. Auf der in düsteren Farben gehaltenen Seite gehen die Mütter mit ihren Kindern gerade in die schon von Flammen umtoste Kirche. Auf der anderen lassen ein Junge und ein Mädchen freudestrahlend eine Friedenstaube fliegen, umweht von der deutschen und französischen Fahne und unter den Sternen der Europa-Flagge.
Die auch vom deutsch-französischen Bürgerfonds unterstützte Bürgerreise war nun ein weiterer Meilenstein in der behutsamen Annäherung der beiden Kommunen. Philippe Lacroix, Rathaus-Geschäftsleiterin Nathalie Dumas, Chefsekretärin Laetitia Ragot, Stadtrat Maurice Gauthier, Dolmetscherin Marine Espinat und Benoit Sadry, Vorsitzender des einflussreichen Märtyrervereins, begrüßten ihre Gäste herzlich im Salle des Carderies und servierten ihnen ein deutsch-französisches Menü, das sich an diesem besonderen Tag auch die rund 230 Schul- und Kindergartenkinder in ihrer ebenfalls in den deutschen Farben geschmückten Schulkantine schmecken lassen durften. Natürlich gehörte auch ein Empfang im Rathaus zum Programm, und ebenso ein Besuch beim größten Arbeitgebers am Ort, der Firma Pusterla, die Kartons für eine Vielzahl von Luxusartikeln herstellt und die Produkte fertig verpackt. „Anstrengend, aber sehr beeindruckend“, beschrieb eine Teilnehmerin die Gemütslage der Gruppe am Ende des Tages.
„Ein besonderer Moment“
Nicht minder herzlich wurde die Hersbrucker Gruppe in Tulle empfangen, der Präfektur („Hauptstadt“) des Départements Corrèze. „Das ist ein besonderer Moment“, sagte Franck Peyret, der Vizepräsident der mit deutschen Landkreisen vergleichbaren Gebietskörperschaft. Während zeitgleich in der Ukraine und im Nahen Osten Kriege toben, sei er „sehr froh, dass solch friedliche Begegnungen zwischen Menschen stattfinden“.
Bürgermeister Robert Ilg dankte dem „cher ami“ und unterstrich, dass die Freundschaft mit Oradour auch eng mit Tulle zusammenhänge: „Das eine ist ohne das andere nicht zu denken“. In dem knapp 90 Kilometer weiter südlich gelegenen Ort hatte die SS-Division „Das Reich“ schon am Tag vor dem Massaker in Oradour seine blutrünstige und menschenverachtende Fratze gezeigt – und als „Vergeltung“ für einen Angriff französischer Widerstandskämpfer 99 unschuldige Bürger hingerichtet.
Wie brutal die deutschen Soldaten damals vorgingen, brachte Roland Gonieau den Besuchern bei einem Rundgang am Ort der Geschehnisse näher. Die SS zwang fast 2000 Männer zwischen 18 bis 45 Jahren aus ihren Häusern und ein Offizier wählte aus ihren Reihen willkürlich 99 Personen aus, sagte der Vorsitzende des Gedenkvereins „Comité des Martyrs de Tulle“. Dann wurden sie mit auf dem Rücken gefesselten Händen entlang der Hauptstraße an Balkonen, Laternenmasten oder Fahnenstangen aufgehängt. Darunter auch – direkt gegenüber seines Elternhauses – der Onkel des damals zweijährigen Roland Gonieau. In einem nahe gelegenem Café tranken und sangen derweil etliche Offiziere und Soldaten.
Einem jungen Mann gelang es, sich aus dem Griff seiner Peiniger zu befreien und von der „Neuen Brücke“ (heute: „Brücke der Märtyrer“) in die Corrèze zu springen. Noch bevor er das Wasser erreichte, wurde er von Maschinengewehrkugeln tödlich getroffen – und sein Leichnam an der nächsten Laterne aufgehängt. Die Toten warfen die SS-Leute später auf die örtliche Hausmülldeponie und ließen sie dort von Jugendlichen aus dem Ort verscharren. Die Seile, an dem die 99 Männer ihren Tod fanden, ließen sie als grausige Erinnerung an ihr Verbrechen hängen.
„Froh für die Freundschaft, die ihr uns entgegenbringt“
„Menschen sind die schlimmsten Lebewesen“, sagte ein sichtlich bewegter Robert Ilg beim anschließenden Gedenken am Mahnmal in Tulle, wo er mit Gonieau und dessen Stellvertreter Michel Drelon einen Kranz niederlegte – wie schon zwei Tage zuvor auf dem Ehrenmal in Oradour und am Grab von Robert Hébras. „Das ist ein bewegender Moment“, sagte er zu Roland Gonieau, „und wir sind alle froh für die Freundschaft, die ihr uns trotz der schlimmen Vergangenheit entgegenbringt“.
Neben diesen mitunter schwer zu verdauenden Eindrücken hatten die beiden Reiseleiterinnen Christl Schäfer-Geiger und Beate Raum von der Stadtverwaltung für die Reiseteilnehmer auch allerhand leichtere Kost im Gepäck: Um die rund 1080 Kilometer lange An- und Abreise einigermaßen erträglich zu gestalten, hatten sie mit Beaune im Burgund (der „Stadt der Weine“ mit ihrem spektakulären Armenhospital Hôtel-Dieu) und Colmar samt seiner vom Fachwerk geprägten Altstadt zwei perfekte Zwischenstopps ausgewählt.
In Limoges bekamen die Teilnehmer nach einer kurzweiligen Stadtführung im „Musée de la Résistance“ einen für den geschichtlichen Hintergrund der Geschehnisse in Oradour und Tulle unverzichtbaren Einblick in die Geschichte der französischen Widerstandsbewegung. Dazu kamen ein Ausflug ins knapp 50 Kilometer entfernte Uzèrche, der auf einem Felsen über einer Flussschleife der Vézère thronenden „Perle des Limousin“, sowie einen vom ehemaligen Landwirtschaftsdirektor Hans Walter vermittelten Abstecher auf den Limousinrinder-Zuchtbetrieb von Pierre und Veronique Gardette in Lubersac.
Kurz vor der Ankunft in Hersbruck, nach fast 2600 Kilometern, ging zunächst ein Dankeschön an den Busfahrer und Frankreich-Fan Uwe. Danach bedankte sich die Reisegruppe mit je einem persönlichen Geschenkpaket herzlich bei Beate Raum, die die ganze Woche über auch als unermüdliche Übersetzerin gefragt war, sowie bei Christl Schäfer-Geiger – für eine „unvergessliche und wunderschöne Reise“. Die hat ohne Zweifel einen neuen, starken Faden in das Freundschaftsband zwischen Hersbruck und Oradour eingewoben.
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